Wie alles begann...
An einem kühlen Herbsttag zog ich mit meiner Gang durch das nahegelegene Wäldchen. Wir mussten auf der Hut sein, es bestand die Gefahr, nein die Gewissheit, dass Indianer uns nach dem Skalp trachteten. Und tatsächlich: Hinter einem Felsen hatten sie uns aufgelauert. Mit ohrenbetäubendem Heulen stürtzten sie sich auf uns. Männer wie uns konnte das natürlich nicht aus der Bahn werfen. Wir schlugen uns tapfer, auch die Indianer mussten kräftig Haare lassen.
Nach einem dreiminütigen Gemetzel tauschten wir die Rollen. Jetzt waren wir die bösen Rothäute... wir waren zehn, elf und einer dreizehn als wir unsere Herbstferien auf diese Weise nutzten, uns auf das richtige Leben vorzubereiten.
An diesem Tag entdeckte ich zum ersten Mal den kleinen Gemeindebahnhof. Eine Lok rangierte - nein, es war keine Dampflok der Western Union, sondern eine kleine, grüne Diesellok (eine 24 PS Jung-Lok wie ich viel später herausfand). Nicht an diesem aber an einem der folgenden Tage spürte ich bewusst diese seltsame Anziehungskraft, die offensichtlich von dieser Maschine ausging. Ich ritt mit meinem Stamm näher heran; auch alleine unternahm ich nun hin und wieder Spähritte mit meinem Hercules-Rennrad dort hin. Das Personal wurde aufmerksam und nach vielen Tagen der Belagerung lud man mich zu einer Mitfahrt ein - ich wäre damals fast geplatzt vor - ich weiß nicht was.
Von nun an hielt mich mittags nach der Schule nichts mehr zuhause, auch nicht meine Oma, noch nicht mal die Hausaufgaben. Ich wurde zum regelmäßigen Begleiter. Als mir das nicht mehr genügte - ich kannte ja mittlerweile die Betriebsabläufe - versuchte ich es mit Weichenstellen. Zumindest reagierte niemand sauer, und so tastete ich mich vorsichtig weiter. Ich steigerte diese Tätigkeit von Tag zu Tag bis zum Rangieren. Kreissignal, Weiche drehen, kommen, aufdrücken! Später übernahm ich auch das Kuppeln und "Schlauchen". Man stelle sich vor, ein elfjähriger kleiner Junge! Das Personal hatte vielleicht Nerven...
Irgendwann zeigte man mir das Lokfahren. Das war nicht ganz leicht für einen schmächtigen 11jährigen, die Bremse wurde mit dem Fuß bedient, dazu brauchte man allerdings das nötige Gewicht, doch daran mangelte es noch ein wenig. An das Handrad geklammert war es mir möglich, die fehlende Masse mit etwas Kraft auszugleichen und auf diese Weise bekam ich auch das Bremspedal niedergedrückt.
Ich glaube, die Nerven des Personals waren mit dieser Alternative etwas weniger beansprucht, lief ich doch jetzt beim Aufdrücken wenigstens nicht mehr - das Koppel in der Hand - zwischen den Wagen rum. Loswerden konnte man mich ja nicht mehr...
Um 14:00 Uhr kam die "Bundesbahn", brachte neue Wagen, fuhr weiter zum Schraubenwerk und holte auf dem Rückweg die bereitgestellte Einheit wieder mit. Diese riesige Lok, dieses wahnsinnige Rot mit den feinen blassgelben Zierstreifen, das hatte mich bald völlig in den Bann gezogen. Wenn die Maschinen, die mit 260 und 261 bezeichnet waren, ihren Ruf ausstießen, erfüllte es mich mit einer undefinierbaren und unstillbaren Sehnsucht.
Jetzt wurde mir klar: all meine Bemühungen, mich im Kampf gegen Indianer oder Banditen zu stählen waren unnötig gewesen. In meinem richtigen Leben würde ich Lokführer werden!
Nicht unerheblich zu diesem Entschluss trug damals sicher mein Onkel bei, er war Lokführer beim nahegelegenen Walzwerk. Ab und an durfte ich sogar mal mit ihm mitfahren, das war vielleicht ein Highlight! Samstags nachmittags, wenn die Normalschicht sich nach Hause ins Wochenende verdrückt hatte (damals war der Samstag noch ein Arbeitstag) schlich ich mich über die Eisenbahnbrücke aufs Werksgelände und da wartete die grüne ML 440 C auf mich - eine 440 PS dreigekuppelte Krauss-Maffei-Lok. Sie hatte einen irren Sound und ich kletterte mit feuchten Händen den Aufstieg hoch - natürlich war das auch damals schon verboten...
Die Zeit ging ins Land, ich beendete die Realschule und begann die Elektrikerlehre - damit hielt ich mir die Zukunft offen. Ich konnte anschließend Lokführer werden, oder aber, wenn mir der Sinn nach etwas anderem stand, die Fachhochschulreife erwerben und Elektrotechnik studieren. Ich war nämlich inzwischen begeisterter Elektronikbastler geworden. Die Eisenbahn hatte mich drei Jahre lang förmlich beseelt, eine lange Zeit für so'n kleene Jung'. Aber in diesem Alter entwickeln sich schnell neue Ideen, Interessen kommen und gehen, und - um ehrlich zu sein - die Eisenbahn war sehr abgegriffen. Nein, nicht abgegriffen - sie war völlig out. Ich hatte keinen Gedanken mehr an sie.
Zehn Jahre später - ich hatte mich für die Alternative Studium in Gießen entschieden - war ich ein Elektronikprofi geworden. Der Amateurfunk mit seinen vielen Möglichkeiten faszinierte mich, besonders die ausgefallenen Betriebsarten wie Morsefunk und die technisch sehr anspruchsvolle Fernsehtechnik hielten mich in Atem. Mit Reparaturen an EKG-, Beatmungs-, Reizstrom- und anderen medizinischen Quälgeräten konnte ich mein Einkommen erheblich aufbessern, die Zeit für's Lernen reduzierte sich allerdings proportional, ebenso, wie sich die Studiendauer verlängerte.
Eines Abends war ich unterwegs zu einer wichtigen Klausurvorbereitung, d.h. zu einem Klausur-Vorbereitungs-Vorgespräch. Mädels würden auch anwesend sein, und zwar zuhauf, und es würde auch Alkohol geben und noch ein paar Dinge mehr. Jedenfalls würde es ein sehr, sehr wichtiges Vorgespräch werden und entsprechend viel Zeit in Anspruch nehmen...
Wieder mal war ich auf dem Wege, den Kampf gegen gefährliche Männer aufzunehmen, wie einst im heimatlichen Wäldchen, diesmal allerdings nicht mit Pfeilen oder Schießgewehren um meinen Skalp zu verteidigen - diesmal im Kampf ums weibliche Geschlecht. Und wieder einmal fielen mir die Diesellokomotiven ins Auge, als ich in meinem Studenten-Passat durch das Industriegebiet am Rangierbahnhof entlang meinem Ziel zuschrammelte. Sie waren mir durchaus noch bekannt, die mittlerweile erblauten 260er - äh, was stand da drauf? 360?? Ich traute meinen Augen nicht! Sollte da irgendwas nicht mehr so sein wie... Nun, ich hatte heute abend wirklich Wichtigeres im Sinne, mein Testosteronspiegel sagte mir, wo es lang ging.
Aber es war irgendetwas passiert, eine sentimentale Regung, naja, wahrscheinlich nur eine Erinnerung an die Kindheit. Oder? Nein, es musste mehr gewesen sein, es hatte mir einen Schlag in den Magen versetzt. Meine 260er, die ich als Kind für den Fels in der Brandung meines Lebens gehalten hatte, sie sollten jetzt nicht mehr die alten sein?
Der Alkohol konnte an diesem Abend zwar mein Testosteron nicht reduzieren, aber er potenzierte meine Sentimentalität. Ich brach irgendwann um 04:00 den Kampf ums weibliche Geschlecht ab und wankte mit zwei bis drei Promille Blut im Alkohol zum Bahnhof. Es war wie eine vergessene und doch sehr vertraute Kraft, die mich jetzt zog: ich musste sie wiedersehen, meine 260er, jetzt, auf der Stelle...
Heute, nach vielen Jahren des optischen und akustischen V 60-Konsums möchte ich mit dieser Web-Site eine Art Selbsthilfegruppe ins Leben rufen um mit anderen Betroffenen mein Laster zu bewältigen. Ich meine natürlich auszuleben! Lang lebe V 60! :-)
V.E.
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