Als ich noch in der Ausbildung war fuhr ich einmal als Rangierleiter auf einer V 100. Es war Winter und wir mussten in einen Industrieanschluss einfahren. Das Gleis zog sich in einem weiten Bogen an einem rechts liegenden Hang entlang. Die Fahrt ging vorbei am Fahrdienstleiter ("Fdl"), der auch den Schlüssel für die Gleissperre hatte. Wenn die Sperre bereits offen war verständigte man sich per Handzeichen, war sie geschlossen, musste der Rangierleiter den Schlüssel in der Bude abholen.
Am Vortag hatte es geschneit, der Neuschnee verhüllte das Land und gab nur die Schienenköpfe dem Blick frei. Als wir zur Fdl-Bude kamen - ich stand rechts vorne auf dem Trittbrett - winkte der Fdl mich herein, den Schlüssel hatte also vor uns niemand geholt, die Sperre lag folglich auf. Ich machte Anstalten abzuspringen, wunderte mich aber sogleich, dass mein Lokführer anstatt zu bremsen beschleunigte. Vergeblich suchte ich Blickkontakt mit ihm, er musste der festen Überzeugung sein, der Fdl habe uns "durchgewunken"!? Ich rief hoch zu ihm (Funk hatte ich nicht), doch keine Reaktion. Die Fahrt ging immer schneller, jetzt schrie ich und winkte das Kreiszeichen ("Sofort halten!") - doch wer sollte es sehen, wenn ich noch nicht mal seinen Kopf erkennen konnte...
In mir stieg Panik auf, wir mussten mittlerweile sicher über 40 km/h erreicht haben, weit über dem, was beim Rangieren, also Fahren auf Sicht, zugelassen ist: 25 km/h - und weit über dem, wo ich mich abzuspringen getraut hätte! Meine ganze Hoffnung lag in dem Gedanken, dass ich den Fdl völlig missverstanden hatte, aber nein doch, ich war mir sicher!
Verzweifelt überlegte ich, wie ich zu ihm klettern könnte - doch bei der V 100 ist das nicht möglich. Dann sah ich sie: die Gleissperre lag auf! Selbst jetzt kapierte mein Lokführer nicht, was er vermutlich auch sah, er bremste noch immer nicht - es wäre ohnehin viel zu spät gewesen. Ich musste grau im Gesicht sein vor Angst als die Gleissperre unter der Lok verschwand, es half nichts: Griffstange los und Abflug...
Ich hatte keine Chance, auf den Beinen zu landen, es riss mir förmlich die Füße weg, ich weiß nicht, wie oft ich mich überschlug. Als ich im Schnee liegen blieb, wurde mir klar, dass ich bei Bewusstsein war, dass ich nicht unter der Lok lag. Arme und Beine waren taub vor Schmerz, mein Gesicht fühlte sich an, als hätte ich ein paar von Muhamed Ali abgekriegt. Und dennoch, hätte der Schnee nicht auf dem scharfkantigen Schotter gelegen...
Ich rappelte mich hoch. Vor mir lag die V 100 "im Dreck": die Gleissperre hatte sie links angehoben, sie war nach rechts entgleist. Der Hang hatte sie zum Stehen gebracht. Die Stelle, an der ich Sekunden vorher auf dem Trittbrett gestanden hatte, hatte sich mit über 50 km/h und 63 Tonnen Masse ins Erdreich gebohrt, der Hang hatte die Maschine endlich gestoppt.
Ich erkannte, wie mein Lokführer benommen vom Führerstand kletterte, er blutete im Gesicht, als er auf mich zu kam. Jetzt klärt es sich, dachte ich, während meine Gedanken bereits auf den bevorstehenden Ärger mit den Vorgesetzten gerichtet waren. Doch: "Warum hast du mich durchgewunken, bist Du verrückt geworden?" schrie es mich an, "du bist Schuld, Du hast mir 'Kommen' gezeigt!". Ich verstand nichts mehr, offensichtlich wollte er mir den Schwarzen Peter zuschieben.
Ich war noch sehr jung und mit dem Schock und dem Schmerz ringend, war ich nicht in der Lage ihm die richtige Antwort zu verpassen. Doch hinter mir hörte ich Schritte, der Fdl kam angelaufen, auch er hielt seine Stimmgewalt nicht zurück: "Pass auf was Du sagst! Ich hab das genau mitgekriegt, der Jung' hat Dir Kreissignal gezeigt! Und jetzt versuchst Du, ihm das in die Schuh' zu schieben - pfui! Wenn Du nicht schon am Bluten wärst, bekämst Du jetzt eine von mir..."
Die spätere Auswertung des Indusi-Streifen bescheinigte mir eine Absprung-Geschwindigkeit von 57 (!) km/h. Heute springe ich früher ab...
Nach der Erzählung eines Triebfahrzeugführers